Ferrante | Fragmente
Schőne Jugend
Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte, sah so angeknabbert aus.
Als man die Brust aufbrach, war die Speiserő hre so lő cherig. Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell
fand man ein Nest von jungen Ratten. Ein kleines Schwesterchen lag tot.
Die andern lebten von Leber und Niere, tranken das kalte Blut und hatten
hier eine schő ne Jugend verlebt.
Und schő n und schnell kam auch ihr Tod: man warf sie allesamt ins Wasser.
Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten !
Mutter
Ich trage dich wie eine Wunde
auf meiner Stirn, die sich nicht schließt.
Sie schmerzt nicht immer. Und es fließt
das Herz sich nicht draus tot.
Nur manchmal plötzlich bin ich blind und spüre Blut im Munde.
Fragmente
Fragmente,
Seelenauswürfe,
Blutgerinnsel des zwanzigsten Jahrhunderts –
Narben – gestörter Kreislauf der Schöpfungsfrühe,
die historischen Religionen von fünf Jahrhunderten zertrümmert, die Wissenschaft: Risse im Parthenon,
Planck rann mit seiner Quantentheorie
zu Kepler und Kierkegaard neu getrübt zusammen –
aber Abende gab es, die gingen in den Farben des Allvaters, lockeren, weitwallenden, unumstößlich in ihrem Schweigen geströmten Blaus,
Farbe der Introvertierten,
da sammelte man sich
die Hände auf das Knie gestützt bäuerlich, einfach
und stillem Trunk ergeben
bei den Harmonikas der Knechte – und andere
gehetzt von inneren Konvoluten, Wölbungsdrängen, Stilbaukompressionen
oder Jagden nach Liebe.
Ausdruckskrisen und Anfälle von Erotik: das ist der Mensch von heute,
das Innere ein Vakuum,
die Kontinuität der Persönlichkeit
wird gewahrt von den Anzügen,
die bei gutem Stoff zehn Jahre halten.
Der Rest Fragmente,
halbe Laute,
Melodienansätze aus Nachbarhäusern, Negerspirituals
oder Ave Marias.
Art installation by Carlo Amorales – Images by Francesco Ferrante | @frank_ferrante_
Excerpts by “Sämtliche Werke” | G. Benn | J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger | 1986